Quelle: UNIVERSITY OF ILLINOIS, USA
Kunststoff- und Elektrotechnik waren niemals zwei Welten. Doch weil Kunststoff sich für elektrischen Strom stets als Hürde darstellte, ergab sich eine klassische Rollenverteilung, die Kunststoffe auf ihre isolierenden Eigenschaften festlegte. Das hat sich geändert, seit es leitfähige Polymere gibt: Die einstigen Gegenspieler erschließen einander neue Funktionen und begründen den Forschungszweig Kunststoffelektronik, auch organische Elektronik oder Polytronik genannt.
Zu den prominenten Vertretern der neuen Kunststoffgeneration zählt Polydimethylsiloxan, abgekürzt PDMS, eine langkettige organische Siliziumverbindung aus der Familie der Silikone – farblos, transparent, ungiftig und reaktionsträge (chemisch inert). PDMS fungiert als Trägermaterial für mikroelektronische Bauelemente, z. B. Sensoren oder Prozessoren, die entweder selbst aus Kunststoff bestehen oder, das ist die Regel, konventionell aus Metall. Schon die Hybridvariante ist spektakulär; insbesondere in der medizinischen Anwendung bricht sie vielversprechenden Innovationen Bahn – überall dort, wo superleichte, mechanisch flexible Lösungen gefragt sind. Paradebeispiel ist das sogenannte Electronic Epidermal System (EES), entwickelt von einem internationalen Team aus Materialforschern und Ingenieuren rund um John A. Rogers und Dae-Hyeong Kim von der University of Illinois in Urbana/USA. EES steht für ein elektronisches Pflaster, das zwecks medizinischer Diagnostik und Überwachung von Organfunktionen (Health Monitoring) auf der Haut getragen wird, z. B. um Pulsfrequenz, Hirnströme und Blutdruck zu messen, die Daten aufzuzeichnen und zu übermitteln.
Das Pflaster besteht aus drei Schichten: Zwischen zwei Lagen PDMS-Folie wurde eine aus Metall laminiert. Hier befinden sich u. a. die hochempfindlichen Sensoren, ein Sender und – anstelle einer Batterie – Solarzellen als Energielieferanten. Diese elektronischen Bauteile sind extrem miniaturisiert und spiralförmig gewunden wie Maschendraht, sodass sie sich ebenso wie der Kunststoffmantel flexibel jeder Körperbewegung anpassen, ohne Schaden zu nehmen. „Konventionelle Elektronik besteht im Kern aus einem Siliziumchip. Der ist normalerweise sehr brüchig und passt gar nicht auf diese weiche, elastische Oberfläche. Je dünner aber der Silizumchip, desto besser lässt er sich beugen“, sagt John A. Rogers. Das elektronische Pflaster ist nur ungefähr halb so dick wie ein menschliches Haar und mit kaum 100 Milligramm Gewicht federleicht. Es ist transparent, luftdurchlässig und hält auf der Haut, ohne dass Klebstoff benötigt wird. Die Folie wird lediglich mit etwas Wasser benetzt und bleibt vermöge Adhäsion, also der sogenannten Van-der-Waals-Kräfte, haften, durch die sich bekanntlich u. a. Geckos an Zimmerwänden und -decken fortbewegen, ohne abzustürzen. Das robuste, hautfreundliche Pflaster muss trotzdem etwa alle zwei Wochen erneuert werden, weil die Zellen der Epidermis sich ständig erneuern und Abschuppungen die Haftung beeinträchtigen können. Beim Entfernen wird die Elektronik unbrauchbar; hier besteht noch Spielraum, das Ganze zu optimieren.
Kabellose Datenübertragung
Erfolgreich getestet haben die Forscher das EES zunächst auf Brust (Messung elektrischer Aktivität des Herzens) und Stirn (Hirnströme). Die Messdaten stimmten exakt mit jenen überein, die zu Vergleichszwecken mittels bewährter Messtechnik generiert wurden. Voraus hat das EES ihnen die breiteren Einsatzmöglichkeiten im Alltag, insbesondere bei der Langzeitanwendung (Beispiel: Dauer-EKG), denn die Datenübertragung erfolgt kabellos, jedenfalls ist das der Plan. Zunächst nutzten die Wissenschaftler aus Illinois ultradünne Drähte, die vom elektronischen Hautpflaster zu einem Datenrekorder führten. Werden die Schaltkreise für die Funkverbindung ins Hautmesssystem integriert, klappt auch die drahtlose Übertragung. Vollzug melden diesbezüglich bereits Wissenschaftler aus dem schwedischen Uppsala, die ein elektronisches Pflaster entwickelten, das die Messdaten per Funk (Bluetooth) übermittelt (Link).
Ursprünglich wurde das polytronische Pflaster für die Robotik entwickelt, wo die Sensoren Signale z. B. an Greifarme übermitteln. Von daher dürfte EES auch Prothesenträgern vonnutzen sein. Ausgeschöpft ist das EES-Potenzial damit nicht. An Unterarm, Bein oder Hals platziert, registriert die Erfindung kleinste Muskelkontraktionen. Die Vision, die daran geknüpft ist, lautet, Querschnittsgelähmten oder Patienten mit neurologischen Erkrankungen zu mehr Mobilität zu verhelfen oder die Kommunikation zu erleichtern. Mit einem auf die Kehle geklebten Sensorpflaster gelang es bereits, Muskelsignale in Richtungskommandos für Computerspiele zu umzuwandeln. Auch könnten Computer solche Miniimpulse in eine rudimentäre Sprache übersetzen. Damit würde das EES zur Schnittstelle Mensch – Maschine. Angebrochen ist das neue Zeitalter bereits, meinen die Forscher. John A. Rogers sieht durch Polytronik die Scheidelinie zwischen Elektronik und Biologie immer unschärfer werden. GD
Quelle
Dae-Hyeong Kim, et alii: Epidermal Electronics. Science 2011, vol. 333, no. 6044, pp. 838-843
www.sciencemag.org/content/333/6044/838.summary